Macht Zucker süchtig?
Bereits kleine Dosen von Zucker sollen in einen „Zucker-Teufelskreis“ führen. So erklärt der Wissenschaftsjournalist Richard Kraft am 25.07.2024 auf den Seiten der Tagesschau, dass es durch die Einnahme von Zucker zur Ausschüttung des Glückshormons Dopamin komme und deshalb unser Verlangen danach beträchtlich steige. Und ebenso heißt es auf der AOK-Seite: „Macht Zucker süchtig“, dass Zucker drogenähnliche Wirkungen auf unser Belohnungszentrum habe und dass das der Grund dafür sei, warum wir so schwer die Finger davonlassen könnten. Genau diese Glückshormone seien es, die beim Zuckerkonsum im Gehirn aktiviert würden und „dass Zucker im Gehirn die gleichen Areale aktivieren kann wie Drogen und sexuelle Erregung.“
Das klingt ziemlich beunruhigend und dramatisch. Allerdings ist das weitgehend ein mediales Erregungstheater, denn was soll daran verwunderlich sein, dass Lebensmittel mit Zucker unser Belohnungssystem stimulieren. Wofür hat es sich denn sonst entwickelt? Es soll diejenigen Verhaltensweisen verstärken, die unserem Überleben dienen. Und es ist in einer begrenzten Welt erfolgsversprechender reife Früchte ballaststoffreichen Blätter vorzuziehen.
Des Weiteren stellt die Behauptung, dass Zucker die gleichen Areale wie Drogen aktiviert, die Verhältnisse auf den Kopf, denn die Formulierung ist andersherum klüger. Hat sich das Belohnungssystem der Tiere entwickelt, damit diese Drogen konsumieren oder doch eher damit sie kalorienreiche Kost und sexuelles Verhalten attraktiv finden?
Nicht Zucker und kalorienreiches Essen kapern das Belohnungszentrum, sondern Substanzen wie Heroin und Kokain verursachen das. Der Vergleich mit Drogen wie Kokain ist zudem völlig schief, weil solche Substanzen tatsächlich häufig das Leben der Abhängigen und deren Angehörigen zerstören. Während mir keine Person bekannt ist, die sich Zucker pur injizieren wöllte, würden Drogenabhängige für den nächsten Kick alles hergeben. Das liegt daran, dass Drogen eben gerade nicht wie natürliche Belohnungen wie Süßes oder Sex durch unseren präfrontalen Kortex kontrollierbar sind, sondern alle anderen Motivationen aufwiegen. Der Wert des nächsten Kicks lastet wie ein Elefant in einer Waagschale, weshalb Drogensüchtige alles, was ihnen früher lieb und teuer war, dafür opfern würden.
Und ganz wichtig: Dopamin ist kein Glückshormon! Die dem Dopamin zugeschriebene Wirkung als Glücks- bzw. Lustmolekül resultierte aus den ersten Experimenten mit Drogen, die die Probanden euphorisch machten. Schnell wurde aber klar, dass Dopamin bei natürlichen Belohnungen wie Essen nur dann aktiviert wird, wenn eine unerwartete Belohnung geschah. Das wird auch als Belohnungsvorhersagefehler bezeichnet, bei dem etwas Besseres als erwartet geschieht. Und damit wird auch klar, was die Aufgabe des Dopaminsystem ist: Es dient der Sicherung von Ressourcen, die noch nicht verfügbar sind. Dopamin ist der Treibstoff des Begehrens, damit wir etwas wollen. Und sobald wir es haben, ist die Arbeit des Belohnungssystems erledigt, denn Dopamin ist nicht fürs Mögen und Genießen zuständig. Das erledigen andere Hormone wie z. B. Endorphine und Serotonin.
Das Verlangen und Mögen werden also von zwei verschiedenen Systemen im Gehirn generiert, so dass etwas Habenwollen eben gerade nicht mit dem Genießen gleichzusetzen ist. Das Dopaminsystem lässt uns von einer vielversprechenden Zukunft träumen, so dass wir diese anstreben. Wir stellen uns in Gedanken vor, wie großartig es wäre, wenn wir unsere Lieblingsspeise bekämen. Und wenn wir sie dann tatsächlich essen, dann können wir diese nur genießen, wenn wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen. Und das gelingt nur, wenn das Dopaminsystem schweigt. Dopamin ist also kein Glückshormon, sondern motiviert uns zum Handeln. Dopamin macht also nur Versprechungen und weckt Erwartungen, aber es kann sie nicht einlösen. Und das ist der Grund, warum wir häufig Dinge wollen, die wir gar nicht mögen.
Praktisches Fazit
Ja, Dopamin ist der Treibstoff, der uns verführt, Dinge haben zu wollen. Und die menschliche Spezies ist diejenige, die von allen Arten, wie Vögeln, Reptilien, Fischen und Säugetieren, am stärksten durch dieses Hormon angetrieben wird. Das ist Fluch und Segen zu gleich. Denn durch dieses in die Zukunft gerichtete Streben haben wir den Mangel einer begrenzten Welt in einen nie dagewesenen Raum voller Möglichkeiten verwandelt. Aber dieser Reichtum hat einen Preis, denn diese Dopamin-stimulierende Reizüberflutung macht uns anfällig für Süchte und verführt uns zum Überkonsum.
Im Gegensatz zu Drogen können wir bei natürlichen Belohnungen wie Essen einen angemessenen Umgang kultivieren, denn wir haben ohnehin keine andere Wahl, weil wir zum Überleben essen müssen. Und Süßes und Zucker lassen sich auch unmöglich vermeiden, denn er ist ein natürlicher Bestandteil vieler Lebensmittel wie Früchte. Wie das am besten gelingen kann, werden wir in einem späteren Artikel genauer erkunden. Aber so viel sei bereits verraten, dass ein maßvoller Genuss von Süßem und zuckerhaltigen Lebensmitteln in der Kunst liegt, einerseits die Fülle der Möglichkeiten zu feiern und zu schmecken und andererseits dies auch bedeutet, nicht jedem Impuls unseres Dopaminsystems nachzugeben.
Wir haben diese Freiheit und sind unseren Gelüsten nicht hilflos ausgeliefert. Dabei werden wir immer wieder mal zu viel des Guten konsumieren, aber das kann uns helfen, langfristig einen maßvollen Umgang zu finden.
Quelle:
https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/zucker-gehirn-100.html
https://www.aok.de/pk/magazin/ernaehrung/lebensmittel/gibt-es-eine-zuckersucht/
„Ein Hormon regiert die Welt“ von Daniel Z. Lieberman und Michael Long
„Die Dopaminnation“ von Anna Lembke.
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